Sprechtäkeli: Backwaschundbügeltag und ein paar Bonuspunkte

Die letzte Sprechtäkeli-Schau förderte ja sehr explosive linguistische Bomben zutage. Die heutige Rückschau ist friedlicher:

  • Nils befürchtet im GoetheBlog, bald nur noch automatisch generierte Geburtstagsnachrichten zu erhalten. Auch ich machte die Erfahrung, dass die Deutsche Bahn keine Mühen scheut, und pünktlich zum Geburtstag eine E-Mail versendet. Doch das ist nicht alles. Denn darin steht:

    […] zum Geburtstag möchten wir dazu beitragen, dass sich all Ihre Wünsche im neuen Lebensjahr erfüllen.

    Aus diesem Grund schenken wir Ihnen heute 100 bahn.bonus-Punkte, die Sie Ihrer Wunschprämie ein gutes Stück näher bringen. Diese schreiben wir Ihnen automatisch auf Ihrem persönlichen bahn.bonus-Konto gut.

    Übrigens, wir haben noch eine weitere Überraschung für Sie vorbereitet.

    Klicken Sie einfach hier: www.geburtstagspunkte.de

    Sie haben jetzt also die einmalige Gelegenheit, so zu tun, als ob sie Geburtstag hätten! Ein Klick, und die Bahn singt für sie! (Ok, die Bonus-Punkte – ähm, nein: bahn.bonus-Punkte müssen Sie sich selber verdienen.)

  • Der geschätzte Kollege Jean Véronis outet sich als waschechter empirischer Linguist. Es ist nämlich so: Wir Linguistinnen und Linguisten sind strikt gegen Mobiltelefonverbote in Zügen, Flugzeugen, Kinos und Restaurants. Denn das Datenmaterial, dass sich ergibt, wenn man scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster blickend nichts anders macht, als angestrengt den Telefongesprächen der Mitmenschen zu lauschen, ist fantastisch. Kosenamen, Begrüssungs- und Verabschiedungsformeln („Aso denn tschüssli bäbäi!“), effektvolle Hörerbindungsmassnahmen („Aso jetzt muni dir mol öppis ganz im Vertraue säge…“), Modi des Lästerns – was immer Sie für Ihren nächsten Aufsatz benötigen, es reichte für vier Dissertationen.

    Und Jean Véronis erzählt von der netten Dame im Mobilfunkverbot-Wagen des TGVs und ihrer wunderbaren Schlussformel: „Allez, va, ça ira!“ Was man mit zwei Wörtern – darunter „aller“ in drei Formen – sagen kann!

  • Der linguistische Monarch und das Wortistik-Blog sind sich nicht ganz einig darüber, ob die Neuschöpfung des Verbs „fünfzigen“ eine Bieridee ist oder eine gelungene Möglichkeit, aus dem Schicksalschlag des 50-werdens einen Freudentag zu machen. Ich muss zugeben, dass ich Neologismen aller Art besonders mag. Und damit bin ich auch Fan der Wortwarte des Computerlinguisten Lothar Lemnitzer. Automatisch werden dort Wortneuschöpfungen der deutschen Presse eruiert. Die neuen Wörter vom 31. Oktober 2006 waren:

    Backwaschundbügeltag, der
    Geburtenratenhysterie, die
    Kreditnehmerplattform, die
    Kreditportal, das
    Mikrogenerator, der
    Navigationshandy, das
    Quotenhandel, der
    Schizografie, die
    Sloganzing, das
    Spaßzone, die
    Standortnetz, das
    Videowerbeform, die
    Weichpianist, der
    Wettportal, das
    Wissenskredit, der

    Man muss sich schon klar sein: Ein Bachwaschundbügeltag ohne angemessenen Wissenkredit und eingerichteter Spasszone mit Weichpianisten geht so in die Hose, dass Sie sofort schizograf werden. Jawoll, so ist das!

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Korpora und Wirklichkeit

Heute wieder in der Kategorie „Korpuslinguistik“ ganz fachlich/sachlich:

  • Das Recherchenblog verweist auf eine Linkliste der Seite Infobroker.ch, auf der frei zugängliche Zeitungsdatenbanken aufgeführt sind. Das sind natürlich interessante Quellen für korpuslinguistische Studien. Die Infobroker-Seite ist ein Produkt der beiden Schweizer Infobroker Beatrice Krauser und Andreas Litscher. Interessant ist auch der Rest des Linksverzeichnisses.
  • Von der Fachzeitschrift Linguistik Online ist eine neue Ausgabe zur Korpuslinguistik erschienen: „Korpuslinguistik im Zeitalter der Textdatenbanken“ heisst die Ausgabe, die vom Neuchâteler Linguisten Anton Näf herausgegeben wurde. Duffner und Näf bringen eine nützliche Übersicht (linguistischer) digitaler Textdatenbanken, Teubert fragt nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Korpus, Berthele widerspricht Teuberts Aussagen und Bickel lotet die Möglichkeiten des Internets als Korpus aus. Dies nur vier der neun Artikel zum Thema.
  • Die Initiative „TextGrid“ hat ihren ersten Newsletter verschickt. TextGrid bemüht sich darum, eine Plattform für philologische digitale Texteditionen zu schaffen. Dabei sollen Standards und gemeinsame Schnittstellen erarbeitet werden, um es der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu ermöglichen, einfach mit mehreren Textquellen (oder Korpora) zu arbeiten.
  • Das Wortschatz-Projekt der Universität Leipzig hat einen neuen grafischen Auftritt und erlaubt (neuerdings?) den Download der Korpora. Es handelt sich um im Web öffentlich publizierte Texte (also z.B. Nachrichtentexte), bei denen die Satzordnung jedoch nicht mehr intakt ist (dies um Copyright-Problemen aus dem Weg zu gehen). Dafür sind Informationen zu den Kookkurrenzen der einzelnen Token integriert.
  • Und zu guter Letzt der Hinweis auf die 2007er Ausgabe der International Conference on Weblogs and Social Media in Boulder, Colorado, USA. Die Organisatoren stellen den Forscherinnen und Forscher zudem ein Korpus von 14 Mio. Weblog-Beiträgen zur Verfügung, in Englisch, Chinesisch, Japanisch, Russisch, Spanisch, Französisch und Italienisch – leider nicht Deutsch…
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Anna, Betty und Marcella

Selber zu kochen ist auch im Zeitalter von Anna, die nur das Beste für uns will und Betty, die den Boss in der Küche markiert, schick. Doch wahre Freizeit-Köchinnen und -Köche wissen: Kochen ist mehr als „pimping up your Fertig-pizza“ oder das Begiessen der Spaghetti mit Fertig-Bio-Sauce. Und wenn wir bei Pasta und Pizza sind: Nein, das italienische Küchenalphabet geht nicht nur von Pa- nach Pi-!

Vor Pa- und nach Pi-

Doch wer es nun wirklich ernst meint mit der italienischen Küche, der kommt um sie nicht herum: Marcella Hazan. In der Wikipedia steht über sie:

She is widely considered by chefs and fellow food writers to be one of the foremost authorities on Italian cuisine.

Die „authority“ können wir ganz wörtlich nehmen: Sie sagt, was geht – und was nicht geht. Ihre Kochbücher, alle zuerst in Amerika erschienen, sind die Bibeln der italienischen Küche. DIE Bibeln.

Ich bete der Ausgabe „Die klassische italienische Küche“ nach. Und ich möchte der geneigten Leserschaft zeigen, dass Marcella Hazan darin nicht nur kulinarische Massstäbe setzt, sondern auch sprachliche.

Flinke, willige Hände

Nehmen wir doch so etwas naheliegendes wie Pasta. Es versteht sich von selbst, dass gewisse Pastasorten selber hergestellt werden müssen. Zwar auch in Italien keine Tugend mehr, die in allen Haushalten gelebt wird.

Aber auch Ihnen wird es gelingen, eine vorzügliche frische Pasta herzustellen, wenn Sie entweder die Maschinen- oder die Nudelholzmethode anwenden. (132)

Schön, wir haben die Wahl – das ist für Marcella Hazan eigentlich untypisch. Doch haben wir die Wahl wirklich?

Diese beiden Methoden sind nicht bloß zwei verschiedene Wege, die zu demselben Ziel führen. Mit der Hand ausgerollte frische Pasta ist etwas ganz anderes als mit der Maschine ausgerollte. […] Doch leider ist das Erlernen der Nudelholzmethode genauso schwer wie das Erlernen eines Handwerks. Mit dem Befolgen von Anweisungen allein ist es nicht getan. Man muss die Handgriffe immer wieder mit großer Geduld und flinken, willigen Händen üben, bis sie automatisch erfolgen und keiner langen Überlegungen mehr bedürfen. (132f.)

Wir ahnen es: Die „Nudelholzmethode“ gehört den Göttern, nicht den Menschen. Versuchen wir es also mit der Pastamaschine:

Es gibt nur eine einzige Art von Pastamaschine, die Sie in Betracht ziehen sollten. Sie hat zum Kneten und Ausrollen des Teigs zwei parallele Walzen, gewöhnlich aus Stahl, und zwei Schneidesätze, einen breiten für Fettuccine und einen sehr schmalen für Tagliolini. […] Lassen Sie sich nicht dazu verleiten, einen dieser „neumodischen“ Apparate zu kaufen, die am einen Ende Eier und Mehl zusammenkneten und am anderen verschiedene Pastaformen herauspressen. Was da herauskommt, ist ein klebriges, nicht akzeptables Produkt; und außerdem ist es eine Plage, die Maschine zu reinigen. (133f.)

Gut, immerhin wissen wir, was wir kaufen müssen. Aber ich warne Sie: Die Beschreibungen, die folgen, nehmen über vier Seiten Erklärungen in Anspruch. Und der Abschnitt über das Kneten ist nur ein Teil davon:

Schieben Sie die Eier-Mehl-Masse mit dem Handballen von sich weg, und halten Sie die Finger dabei gekrümmt. Schlagen Sie die Masse zur Hälfte übereinander, drehen Sie sie um 90 Grad, pressen Sie sie fest mit dem Handballen wieder nach unten und wiederholen sie den Vorgang. Achten Sie darauf, dass sie die Teigkugel immer in dieselbe Richtung drehen, entweder im Uhrzeigersinn oder dagegen. Wenn Sie den Teig auf diese Weise 8 volle Minuten geknetet haben und er so glatt wie Seide ist, dann ist er bereit für die Maschine. (136)

Na? Noch kein Handgelenk gebrochen? Aber wie gesagt, das ist die einfache Methode. Die „Nudelholzmethode“ wird dann auf sechseinhalb Seiten erklärt…

Die Vermählung

Sie werden irgendwie zum Ziel kommen. Aber was ist Pasta ohne Sauce? Auch da hilft Marcella Hazan natürlich weiter. In 55 Rezepten erklärt sie die Möglichkeiten, Pasta „innigst“ mit Sauce zu vermählen. Und davon enthalten etwa 15 Rezepte Tomaten. Soviel zur Anna-Betty-Tomatensauce!

Doch der Hazan’sche Imperativ zeigt sich an meiner absoluten Lieblingsstelle des ganzen Kochbuchs am schönsten. Sie schildert den Moment, in dem Sie Pasta und Sauce vermählen (es ist auf absolute Gleichzeitigkeit zu achten!) und die darauf folgenden Sekunden:

Haben Sie die Pasta in der Sauce gewendet, servieren Sie sie sofort und fordern Sie Familie oder Gäste auf, die Unterhaltung abzubrechen und mit dem Essen anzufangen. (132)

Grossartig! Das ist doch die ansprechendere und hoffnungsvollere Variante des Brecht’schen „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“!

Foto: Die Früchte gemeinsamer Anstrengungen – ohne Maschine!
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Sprechtäkeli: Mit Worten die Welt ins Jenseits bomben

Linguistisch ist diese Woche mal wieder die Post abgegangen:

  • Der UNO-Sicherheitsrat versucht sich auf eine Resolution zu einigen [Update: hat sich geeinigt], um auf den erfolgreichen, misslungenen oder nur behaupteten Atomwaffentest in Nordkorea zu reagieren. Bush meint dazu aber:

    Die USA arbeiteten daran, die nordkoreanische Behauptung zu bestätigen, aber diese Behauptung in sich sei schon eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Stabilität. (NZZ)

    Wir lernen: Die Sprechakttheorie, die behauptet, wir würden mit Worten die Welt verändern, ist somit zweifelsfrei bewiesen. Es reicht zu behaupten, man hätte die Welt in die Luft gesprengt, um eine Resolution der UNO zu riskieren.

  • Oder, um ein anderes Beispiel zu geben, zu behaupten, man habe im Bahnhof von Genf eine Bombe versteckt. Die Worte lösen nicht nur einen riesigen Polizeieinsatz aus, sondern auch Nachahmer.
  • Beim linguistischen Monarchen bin ich über „gefiederte Terroristen“ gestolpert. Eine schöne Bezeichnung für Raben, die bei mir natürlich sofort die Frage aufwirft, wie den Terroristen im Allgemeinen so sind. Hier die Antwort: Meistens sind die nur „mutmasslich“. Doch dann folgen „albanische“, „islamische“ und „palästinensische“ Terroristen. „Islamische“, „arabische“ und überhaupt „internationale“ Terroristen. Man sieht daran, dass die Daten des benutzten Korpus etwa Anfang des 21. Jahrhunderts enden. Sonst stünden die „albanischen Terroristen“ nicht an zweiter Stelle. Leider sind Terroristen häufig „gesucht“ (also noch nicht „gefunden“), manche sogar „meistgesucht“, weniger aber „verurteilt“, „getötet“ – und noch weniger „gefangen“ oder „einsitzend“. Das Leben als Terrorist ist also gefährlich. Doch immerhin: Viele Terroristen sind „ehemalige“. Das macht doch Hoffnung.
  • Schliesslich fand der Wortistiker die passende Bezeichnung für die vom Friedensnobelpreis geadelte Graswurzelbank: Nanobank.
  • In eigener Sache habe ich mich dazu entschlossen, ein Hard Bloggin‘ Scientist zu sein und freue mich, dort einen halben Kollegen gefunden zu haben.
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Schönwetteralarm: Sich ins Grüne ärgern

Der Zürcher Herbstnebel sorgt wieder dafür, dass ich frühmorgends, ohne Radar ausgerüstet, kaum den Weg ins Büro finde und in der ständigen Angst lebe, in die Sihl, den Stadtgraben oder die Limmat zu fallen. Ich ängstige mich dabei weniger vor dem kühlen Nass, sondern davor, am Ende nicht mal zu wissen, ob ich jetzt in die Sihl, den Stadtgraben oder die Limmat gefallen bin. Es sind alle gleich grau.

Die Bleichen auf dem Lande

Das ist also die Zeit, in der das Zürcher Oberland an den Wochenenden jeweils „Schönwetteralarm“ (heute in der NZZ) auslöst: Zehntausende bleiche StadtbewohnerInnen haben jeweils das Gefühl, sie müssten alle mit dem Auto in die sonnigen Zürcher „Berge“ fahren, so dass die Strassen verstopft, die Bauern wütend und die Wege in die Beizen beschwerlich sind. Keine Frage, man muss etwas tun.

So, und jetzt, liebe NichtzürcherInnen: Was vermuten Sie ist das Konzept, das hinter der schönen Bezeichnung „Schönwetteralarm“ steckt? Denken wir logisch: Bei einem „Feueralarm“ verlässt man das Gebäude, ruft die Feuerwehr und die verhindert ein Ausbreiten der Flammen, löst also das Problem. Bei „Katastrophenalarm“, z.B. bei einer drohenden Überschwemmung, kommt der Zivilschutz, baut Dämme mit Sandsäcken auf, bringt die Boote in Position und versucht die Wassermassen abzuwehren. Und bei „Terroralarm“ – naja, da macht man eigentlich nichts. Aber das ist ein anderes Problem.

Autofahrer abspritzen?

Nun aber zum „Schönwetteralarm“. Hier wird die Feuerwehr aufgeboten, die aber keine Dämme gegen Autos baut oder die Autofahrer mit Wasser absprizt, nein, die öffnet riesige Spezialparkplätze, regelt den Verkehr so gut, dass man nicht nur mit dem kleinsten Smart, sondern auch mit dem Offroader so bequem und rasch wie möglich an den Fuss des Berges fahren kann. Endlich: Eine noch viel grössere Blechlawine kann ungehindert ins Oberland fahren!

Was zum Grundwortschatz gehört

Das ist kein „Schönwetteralarm„-Konzept, das ist ein „Schönwetterautofahrenbegünstigungsprogramm„, ein frohes Zukucken beim Niederbrennen des Hauses, eine lustige „reisst-die-Dämme-nieder“ und „Juhee-die-Überschwemmung-kommt“-Party. Und das im Kanton, in dem die Erfolgsgeschichte des öffentlichen Verkehrs geschrieben wird und die letzten Ecken mit S-Bahn und Bus bequem erreicht werden können. Vielleicht müssen wir an dieser Stelle mal einen heissen Tipp für eine Internetadresse geben: www.sbb.ch. Wenn „S-Bahn“ in Ihrem Vokabular nicht vorkommt, ist es Zeit, seine Bedeutung kennen zu lernen. Es gehört zum Grundwortschatz und steht für diese langen, blau-weiss-roten Stahlkasten, die jeweils an Ihnen vorbeiflitzen, wenn Sie im Stau stehen. Wir sind zwar kein Bilderlexikon, aber hier:

Foto Nebelmeer (unterhalb der Scheidegg): Noah Bubenhofer; Foto S-Bahn: © SBB
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Die Argumente lottern, nicht die Sprache

Ich hatte bereits darauf hingewiesen: Der Spiegel titelte in seiner 40. Ausgabe „Rettet dem Deutsch“ und „Deutsch for sale“. Kulturredaktor Mathias Schreiber behauptet, Deutsch verlottere, es werde „so schlampig gesprochen und geschrieben wie wohl nie zuvor“ und an allem Schuld sei die „Mode, fast alles angelsächsisch ‚aufzupeppen'“ (182).

Ich gähne. (Um es mit einem „filmtitelartigen Miniaturhauptsatz“ (184) zu sagen, wo wir bei einem Nukleus des Problems der Verlotterung unserer Sprach angelangt wären, da wir nicht mehr fähig seien, so Schreiber, „[l]ange, architektonisch raffiniert gebaute Sätze, wie sie bei Kleist, Thomas Mann, Thomas Bernhard, sogar noch bei dem jungen Daniel Kehlmann zu finden sind“ (ebd.), zu produzieren.)

Obwohl ich kürzlich noch zu erklären versuchte, warum sich Sprachwissenschaft und Nicht-Sprachwissenschaft in der Einschätzung von Sprachwandel – ähm: Sprachverfall – kaum einig werden können, sage ich zu diesem Artikel: Interessant – aus historischer Sicht. Fachlich und inhaltlich bietet er leider hauptsächlich langweilige Polemik. Das sehen andere ähnlich: Der Monarch bringt es auf den Punkt: Das seitenlange Wettern gegen Anglizismen fände er nicht so schlimm, wenn sich der Autor

nicht als Anhänger adjektivbestückter Nominalkomposita und längst verblasster Sprachbilder profilieren müsste. Wenn er also nicht so schlecht schreiben würde.

(„Ja eben!“, würde Mathias Schreiber wohl schreien, „die Jungen von heute sind sprachlich so degeneriert, dass sie diesen Ausdruck komplexer Gedankengänge schlicht nicht mehr verstehen!“ Doch keine Angst. Wir gewieften – oh sorry: smarten, aber leider infantilisierten Sprecher (183) dieser Lottersprache striken back: Könnten die Unterschiede der Satzlängen bei Mann im Vergleich zu heutigen Zeitungstexten mit der Textsorte zusammenhängen? Herr Schreiber, lesen Sie bei surfguard weiter.) Ich möchte an dieser Stelle die bereits abgehandelten Schwachstellen des Textes nicht noch blosser legen (um einen eigentlich verbotenen Komparativ zu verwenden, erst noch orthographisch schweizerisch-degenerativ ohne ß!), sondern auf die Kollegen verweisen: Scot W. Stevenson relativiert die krude Vorstellung, Komplexitätssteigerung gehe mit Qualitätssteigerung einher, Trithemius erteilt dem Spiegel pädagogische Ratschläge, nils über fehlende Ausgewogenheit, Detlef Gürtler über Schlumperei und Statistik.

Aber etwas will mir nicht in den Kopf: Schon fast im Finale des Artikels lobt Mathias Schreiber die Herbert-Hoover-Schule, „einer Realschule mit über 90 Prozent Migrantenanteil“, die den Nationalpreis 2006 erhalten hat. „Eltern, Schüler und Lehrer hatten in der Schulkonferenz einstimmig beschlossen, für 370 Schüler aus 15 Nationen Deutsch als verbindliche Sprache des Hauses, auch auf dem Pausenhof, festzusetzen.“ (198) Das diene der Agressionsminderung und sei erfolgreiche Integrationspolitik. Wunderbar, durchaus eine interessante Idee. Nur: Was hat das mit einer „Bewegung gegen die Verlotterung des Deutschen“ zu tun? Die Massnahme wirkt, weil alle die selbe Landessprache sprechen. In welchem „Zustand“ diese ist, wie gross der Anglizismenanteil, wie komplex die Syntax ist, spielt überhaupt keine Rolle. Es funktioniert selbst in konkret krass mit Ami-Wörtern durchsetztem Balkandeutsch.

Der Artikel vermischt in populistischer Manier die beliebtesten Motive aktuellen Krisengeplappers: Ausländer, Amerikaner, EU-Müdigkeit, Spassgesellschaft. Und früher war alles besser. Das war schon immer so. (Welche Rolle spielen eigentlich die Terroristen?)

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Sprechtäkeli: Schlussendlich führte ich mit dem Terroristen eine Diskussion zu Duden vs. Wahrig

Wir wollen hier regelmässig einen Blick auf die täglichen Sprechtäkeli der Blogosphäre werfen: Eine Ikone ist kürzlich verschieden, Betty Bossi, die eigentlich nur aus Wörtern bestand, ein ganzes Reich, trotzdem gut kochte und eigentlich Emmi Creola hiess. Apropos essen: Das Mädchen vom Limmatquai titelt „unkontrollierbar“ und hat damit jegliche Hoffnung schon abgeschrieben, sich von ihrer Schoggisucht heilen zu können. Ich rufe ein aufmunterndes „momentan unkontrolliert“ über die Limmat!

Aber sorry: „Mädchen“ ist natürlich genau so diskriminierend wie das „offensichtlich nicht-generische Maskulinum“ in einem Artikel der NZZ am Sonntag über die Sorgen Flugreisender in Erwartung ihres Sitznachbarn/ihrer Sitznachbarin: „‚Hoffentlich ist sie hübsch.‘ – ‚Hoffentlich spricht er mich nicht an.‘ Und seit Herbst 2001: ‚Hoffentlich kein Terrorist.'“ Wobei man sich bei letzterem fragt: Es kommt dann eigentlich doch nicht so darauf an, wo der Terrorist sitzt, wenn die Bombe zündet. Oder doch: Wenn er (oder sie…) neben mir sitzt, kann ich wenigstens zwischen Bomben-Ankündigung und Abflug in den richtigen Himmel mit ihm (oder ihr) ein Streitgespräch zum Thema „Duden oder Wahrig? Welches Nachschlagewerk ist besser?“ oder so führen.

Damit zeigt sich sehr wörtlich, dass die Sprache eines der ersten Kriegsopfer sein kann. Aber nicht nur Kriegsopfer, auch H&M-Opfer. Die Sprache ist also so stark bedroht, dass auch der Spiegel ein Heft dazu verfassen musste. Doch auch Herr Wortreich hat ihn leider noch nicht gelesen. Ob wir (rein technisch) überhaupt fähig dazu sind? Normale Leser stöbern nämlich nur in Büchern, lesen tun die schon lange nicht mehr.

Schlussendlich muss ich noch auf Herrn Blogwiese zu sprechen kommen. Er findet „schlussendlich“ nämlich überflüssig und behauptet, es handle sich dabei um einen Helvetismus. Zur Relativierung ein paar Zahlen. In jeweils einem Jahrgang findet man in diesen Zeitungen folgende Anzahl Artikel, in denen „schlussendlich“ vorkommt: Tagi 43, NZZ 0, Süddeutsche Zeitung 29, Berliner Zeitung 3, Frankfurter Allgemeine 29.

Es ist immer alles komplizierter.

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Sprachzerfall oder lebendige Sprache? Oder: Warum wir aneinander vorbei reden

Die Verluderung und Verhunzung der Sprache, die Flut der Anglizismen, das daraus resultierende „Schimpansendeutsch“ oder „Denglisch“ – und jetzt auch noch das: Der „Schul-Horror Balkan-Deutsch„. Der Untergang der Sprache wird alle Jahre wieder angekündigt. Und nachdem mit der letzten Abstimmung in der Schweiz das Thema „Migration“ (wie es die einen nennen) bzw. das „Ausländerproblem“ (wie es die anderen nennen) emotionalisiert wurde, betrieb der Blick letzte Woche Aufklärung mit dem grossen „Ausländerreport“. Und er klärte auch auf zum Thema Sprache:

Die Kids sprächen also heute im Balkan-Slang – und eben nicht nur jene vom Balkan, sondern auch die Schweizer, weil das Kult sei.

Für besorgte Lehrer und Eltern ist es jedoch der blanke Horror. Sie befürchten eine beschränkte Kommunikationsfähigkeit. Oder ganz einfach mangelnde Deutschkenntnisse.

Die Linguistik handelt das Phänomen unter dem Stichwort „ethnolektales Deutsch“ ab. Das Phänomen selber ist nicht neu: Die italienischen Einwanderer… Weiterlesen

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Intelligenz von gestern: Auch digital

Es ist völlig faszinierend: Die Stadt- und Universitätsbibliothek Bern bietet seit kurzem 31 Jahrgänge des „Intelligenzblattes für die Stadt Bern“ zur kostenlosen Nutzung im Web an, wie die NZZ und auch der Bund berichteten. Das Blatt war im 19. Jahrhundert die wichtigste Lokalzeitung: Die Ausgaben zwischen 1834 bis 1865 sind nun digitalisiert (natürlich inkl. OCR Texterkennung), die weiteren Ausgaben bis 1888 folgen im Oktober 2006.

Über das Webinterface ist nun eine komfortable Volltextsuche möglich. Die Zeitungsseiten können direkt im Browser angesehen oder aber als PDF-Datei heruntergeladen werden.

Natürlich ist ein solches Angebot auch für LinguistInnen sehr interessant. Ich verbrachte gleich Stunden mit Stöbern – und stiess z.B. auf eine nette Reklame gegen Haarausfall:


(Intelligenzblatt der Stadt Bern, Ausgabe vom 6. 4. 1858)

Oder man liest den Bericht über eine Aufführung im Stadttheater, bei der die Sängerin, Demoiselle Lemy, wegen ihrer dialektalen Aussprache auf ganz charmante Art getadelt wird:

Die ganze Rolle war übrigens sehr gewissenhaft einstudiert und der Gesang fand allgemeine Anerkennung. Sehr viel Fleiß muß Dem. Lemy noch auf dle Aussprache verwenden, daß nicht unangenehme Eigenthümlichkeitn ihres heimatlichen Dialekts zu stöhrend hervortreten.

(Intelligenzblatt der Stadt Bern vom 19. 12. 1838, S. 448)

Und erstaunt liest man ein zwar schreiendes Ausverkaufs-Inserat, das jedoch so anständig schreit, dass man sich als potenzieller Kunde richtig gebauchpinselt fühlt:


(Intelligenzblatt der Stadt Bern, Ausgabe vom 19. 4. 1855)

Man vergleiche das mal mit einem heutigen MediamarktSaturnTelecomXY-Inserat!

Kurz, eine wunderbare Sache. Als Korpuslinguist würde man sich jetzt nur noch weitere Formen der Textpräsentation wünschen. Z.B. KWiC-Ansichten der Fundstellen, Kookkurrenzanalysen und dergleichen. Und weiter würde man sich wünschen, dass die NZZ mit ihrem Archiv dereinst auch eine so einfach zugängliche Präsentationsform finden wird.

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Es bitzeli-Grounding

Die Piloteninnen und Piloten der Swiss – nein: die Avro-Pilotinnen und Piloten der Swiss kämpfen für gerechte Löhne und streikten bzw. legen die Arbeit nieder. Für die NZZ Online war dann am Streiktag, dem Dienstag, zumindest während einiger Minuten klar: Das ist ein Teil-Grounding!

Und damit ist die Zeitung einmal mehr sprachschöpferisch tätig: sozusagen die Mini-Version des Swissair-Groundings, dieses Schweizer Nationaldramas. Aber eben: Nur „es bitzeli“ ein Grounding, jedoch mit bedrohlichem Hintergrund, wie die NZZ zu meinen scheint.

Aber das ist erst der Anfang! Mit der Sprachschöpfung, meine ich! Ich stelle mir schon vor, wie in den Schulen die Lehrpersonen sich einander in der 10-Uhr-Pause von unterschiedlich grossen Teil-Groundings ihrer übernächtigten Schülerinnen und Schüler erzählen (und sich über das mittelfristige Total-Grounding nicht mehr wundern werden). Oder ich bei Nachlässigem Giessen der Balkonpflanzen schon bald ein Teil-Grounding meiner Pflanzen konstatieren muss. Und ich bei Vernachlässigung des Sprechtakel-Blogs dies mit einem Teil-Grounding der Ideen entschuldigen kann. Aber keine Angst: Zu einem Total-Grounding beim Sprechtakel wird es nicht kommen. Ich brauche kein Kerosin und das Thema Lohn spreche ich gar nicht erst an…

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