Die Argumente lottern, nicht die Sprache

Ich hatte bereits darauf hingewiesen: Der Spiegel titelte in seiner 40. Ausgabe „Rettet dem Deutsch“ und „Deutsch for sale“. Kulturredaktor Mathias Schreiber behauptet, Deutsch verlottere, es werde „so schlampig gesprochen und geschrieben wie wohl nie zuvor“ und an allem Schuld sei die „Mode, fast alles angelsächsisch ‚aufzupeppen'“ (182).

Ich gähne. (Um es mit einem „filmtitelartigen Miniaturhauptsatz“ (184) zu sagen, wo wir bei einem Nukleus des Problems der Verlotterung unserer Sprach angelangt wären, da wir nicht mehr fähig seien, so Schreiber, „[l]ange, architektonisch raffiniert gebaute Sätze, wie sie bei Kleist, Thomas Mann, Thomas Bernhard, sogar noch bei dem jungen Daniel Kehlmann zu finden sind“ (ebd.), zu produzieren.)

Obwohl ich kürzlich noch zu erklären versuchte, warum sich Sprachwissenschaft und Nicht-Sprachwissenschaft in der Einschätzung von Sprachwandel – ähm: Sprachverfall – kaum einig werden können, sage ich zu diesem Artikel: Interessant – aus historischer Sicht. Fachlich und inhaltlich bietet er leider hauptsächlich langweilige Polemik. Das sehen andere ähnlich: Der Monarch bringt es auf den Punkt: Das seitenlange Wettern gegen Anglizismen fände er nicht so schlimm, wenn sich der Autor

nicht als Anhänger adjektivbestückter Nominalkomposita und längst verblasster Sprachbilder profilieren müsste. Wenn er also nicht so schlecht schreiben würde.

(„Ja eben!“, würde Mathias Schreiber wohl schreien, „die Jungen von heute sind sprachlich so degeneriert, dass sie diesen Ausdruck komplexer Gedankengänge schlicht nicht mehr verstehen!“ Doch keine Angst. Wir gewieften – oh sorry: smarten, aber leider infantilisierten Sprecher (183) dieser Lottersprache striken back: Könnten die Unterschiede der Satzlängen bei Mann im Vergleich zu heutigen Zeitungstexten mit der Textsorte zusammenhängen? Herr Schreiber, lesen Sie bei surfguard weiter.) Ich möchte an dieser Stelle die bereits abgehandelten Schwachstellen des Textes nicht noch blosser legen (um einen eigentlich verbotenen Komparativ zu verwenden, erst noch orthographisch schweizerisch-degenerativ ohne ß!), sondern auf die Kollegen verweisen: Scot W. Stevenson relativiert die krude Vorstellung, Komplexitätssteigerung gehe mit Qualitätssteigerung einher, Trithemius erteilt dem Spiegel pädagogische Ratschläge, nils über fehlende Ausgewogenheit, Detlef Gürtler über Schlumperei und Statistik.

Aber etwas will mir nicht in den Kopf: Schon fast im Finale des Artikels lobt Mathias Schreiber die Herbert-Hoover-Schule, „einer Realschule mit über 90 Prozent Migrantenanteil“, die den Nationalpreis 2006 erhalten hat. „Eltern, Schüler und Lehrer hatten in der Schulkonferenz einstimmig beschlossen, für 370 Schüler aus 15 Nationen Deutsch als verbindliche Sprache des Hauses, auch auf dem Pausenhof, festzusetzen.“ (198) Das diene der Agressionsminderung und sei erfolgreiche Integrationspolitik. Wunderbar, durchaus eine interessante Idee. Nur: Was hat das mit einer „Bewegung gegen die Verlotterung des Deutschen“ zu tun? Die Massnahme wirkt, weil alle die selbe Landessprache sprechen. In welchem „Zustand“ diese ist, wie gross der Anglizismenanteil, wie komplex die Syntax ist, spielt überhaupt keine Rolle. Es funktioniert selbst in konkret krass mit Ami-Wörtern durchsetztem Balkandeutsch.

Der Artikel vermischt in populistischer Manier die beliebtesten Motive aktuellen Krisengeplappers: Ausländer, Amerikaner, EU-Müdigkeit, Spassgesellschaft. Und früher war alles besser. Das war schon immer so. (Welche Rolle spielen eigentlich die Terroristen?)

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