Tramlinien: Vom Bild- zum Textverstehen

https://de.wikipedia.org/wiki/VBZ_Be_4/6_%28Tram_2000%29#/media/File:Zurich_Be_4-8_Saenfte_2110_Milchbuck.jpg

Tram in Zürich (Quelle: Wikipedia)

Linguistinnen und Linguisten erforschen ja immer wieder gerne ihre Kinder; für empirische Untersuchungen ist die Fallzahl zwar meist etwas gering, das Beobachter-Paradoxon lässt sich auch nicht wirklich umgehen und die Compliance der Versuchspersonen lässt manchmal zu wünschen übrig. Im Folgenden vermischt sich aber Vaterstolz und linguistisches Interesse, deshalb muss ich kurz darüber berichten, wie mein Sohn (2,8) mit etwa 2,2 begann, Zahlen lesen zu lernen, und zwar dank der Trams.

Um zu sehen, muß man zuerst wissen. (Ludwik Fleck: Schauen, Sehen, Wissen – 1947)

Wenn die Kategorien „Auto“, „Tram“ und „Bus“ mal gelernt sind, wird es ohne weitere Differenzierung langweilig. Deswegen begannen die Eltern die Fragen des Kindes nach der Art des Trams („Was ist das für ein Tram?“) mit Siebner, Zehner, Vierzehner etc. zu beantworten (man hätte auch mit „Tram 2000“, „Cobra“, „Be 4/6“ etc. antworten können, das kam dann aber erst später).

Der Unterscheidungsreichtum der Linie ist erstaunlich – und tatsächlich hat uns George Spencer-Browns radikales Unterfangen, das Logische auf die Lineatur der Strichoperation zurückzuführen, auf dieses Potenzial nachhaltig aufmerksam gemacht. […] Mehr noch: alle Zeichenpraktiken finden in der elementaren graphischen Markierung, die ein Strich setzt, ihre ‚Urszene’ und ihren Schlüssel, denn die Linie durchtrennt und zerlegt eine Fläche. (Krämer 2009: 100)

Das Kind schaffte es in der Folge selbständig, das relevante Diskriminierungsmerkmal, nämlich das farbige Schild mit der grafischen Form an der Stirn, auf der Seite und am Heck der Trams zu identifizieren, wobei zunächst Tramform und Farbe ausschlaggebend waren: Der Siebner ist immer ein langes Tram 2000, vorne schwarz. Der Zehner ist meist eine Cobra, vorne pink. Manchmal aber auch ein Tram 2000. Im Kopf des Kindes begann sich wohl ungefähr folgende Übersicht zu bilden:

vbzlinien

Insbesondere Farben waren mit Bezeichnungen (Zweier, Dreier, Vierer) verknüpft. Allerdings gab es Probleme, nämlich Ambiguitäten: Der Fünfzehner ist genau so rot wie der Zweier, der Dreier so grün wie der Elfer und fast wie der Achter. Daher helfen die Ziffern als weiteres Unterscheidungsmerkmal – einerseits farblich (der Achter ist grün und schwarz, während der Dreier und Elfer grün und weiß ist), andererseits die Komplexität: Grün mit einer Zifferneinheit ist der Dreier, mit zwei Zifferneinheiten ist der Elfer.

“Dieses Diagrammatische, mit dem die Logik das Pikturale zu unterwandern beginnt, ist Resultat von Tilgungsoperationen, die exemplifiziert werden am visuellen Material. Deren Bedeutung aber muß verstanden werden: daß die Dicke der Linie keine Bedeutung hat, nur ihr Verlauf. Ohne den Aufbau eines Bezugssystems wäre dies unmöglich.” (Stetter 2005:7)

Schlimm war der Besuch in einer anderen Stadt:

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Front_and_rear_view_of_BLT_Trams_at_Basel,_Switserland.JPG

Trams in Basel (Quelle: Wikipedia)

Der Elfer ist rot und der Zehner gelb! Aber das ließ sich durch die andere Farbe der Trams erklären: Gelbe (und grüne) Trams, also ein anderes System – aber der erste Schritt dazu, ein weiteres Diskriminierungsmerkmal zu erkennen: Die Form der Ziffern.

Was die Figuren a oder あ zu dem Buchstaben a, dem Hiragana あ (a) macht, ist die Schematisierung, die ihrer Produktion zugrunde liegt. Man nimmt eine Inskription i‘ zum Muster, weil sie besonders gelungen, z. B. in ihren Proportionen ausgewogen ist, und leitet aus ihr ein Verfahren ab, weitere Inskriptionen i“, i“‘, … zu erzeugen, die i‘ so weit gleichen, daß man i‘, i“, i'“ … als Tokens eines Typs I ansprechen und von Tokens anderer Typen unterscheiden kann. (Stetter 2007: 125)

Es gab dann Abende mit Zahlen-Raten vor dem Computer:

 

7

Siebner! – Jaaaaa!

10

Zehner! – Jaaaaaaaaa!

7

Siebner! – Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!

10

Zehner! – Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!

10

Ähm … Zehner! – Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!

10

Zehner! – Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!

Parallel dazu schaffte das Kind die Verknüpfung vom (bereits bekannten) Konzept der Zahlen mit jenem der Tramlinien: Zehner: Hat eine 10. Neuner: Eine 9.

Doch das Diagramm ist nicht Schrift, genauer gesagt: es ist nicht oder noch nicht Text. Denn auch das Diagramm hat noch keine Syntax. (Stetter 2007: 126)

Zum Glück gibt es in Zürich einige Tramlinien, so dass das Kind auch 11, 12, 13, 14, 15, 17 zu lesen lernte und – dies als vorerst letzter Entwicklungsschritt – die zweiziffrigen Zahlen als ebensolche analysiert, also 11 als Kombination von 1 und 1 wahrnehmen kann. Damit ist nun der Schlüssel gegeben, um vor einer Zahl wie 1000 nicht mehr zu kapitulieren oder mit 12:00 ein weiteres Konzept, das über Zahlen ausgedrückt wird, zu erlernen.

Literatur

Fleck, Ludwik: Schauen, Sehen, Wissen – 1947, in: Werner, Sylwia ; Zittel, Claus (Hrsg.): Fleck, Ludwik: Denkstile und Tatsachen: Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Originalausgabe. Aufl. Berlin : Suhrkamp Verlag, 2011.

Krämer, Sybille: Operative Bildlichkeit. Von der ,Grammatologie‘ zu einer ,Diagrammatologie‘? In: Heßler, M. ; Mersch, D. (Hrsg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Metabasis. Bielefeld : Transcript, 2009, S. 94–123.

Stetter, Christian: Bild, Diagramm, Schrift. In: Grube, G. ; Kogge, W. ; Krämer, S.: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, Kulturtechnik. München : Wilhelm Fink Verlag, 2005.

 

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