Die Jugend

Im letzten Sprechtakel präsentierte ich erste Ergebnisse meiner korpuslinguistischen Recherche zum Seebacher „Fall“, wie er in Tages-Anzeiger und NZZ mehrheitlich bezeichnet wird. Der „Fall“: Die mutmassliche Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens.

Die präsentierte Wortwolke der Nomen und Eigennamen, die besonders häufig in NZZ und Tages-Anzeiger in der Berichterstattung dazu erschienen, gibt dem „Fall“ das sprachliche Gesicht. Und eine der auffallenden Merkmale dieses Gesichts sind die folgenden Nomen:

Jugend (1x)
Jugendanwalt (7x)
Jugendanwälte (1x)
Jugendanwalts (1x)
Jugendanwaltschaft (7x)
Jugendbande (1x)
Jugenddienstes (1x)
Jugendforensik (3x)
Jugendliche (139x)
Jugendphase (1x)
Jugendpsychiaterin (4x)
Jugendpsychologe (1x)
Jugendsexualität (1x)
Jugendstaatsanwaltschaft (1x)
Jugendstrafgesetz (2x)
Jugendstrafrecht (4x)
Jugendstrafurteile (5x)
Jugendversteher (1x)

(Liste gibt Detail der Darstellung „Berichterstattung zum Vergewaltigungsfall in Zürich-Seebach im Tages-Anzeiger und in der Neuen Zürcher Zeitung: Nomina und Eigennamen“ wieder.)

Kriminalität unter Jugendlichen wird in der Medienöffentlichkeit so empört verhandelt, wie sie verbreitet ist (vgl. auch die Kommentare hier und hier auf „medienzirkus“). Dies zeigt eine Studie zu „Erfahrungen mit Gewalt“ unter Jugendlichen, über die Manuel Eisner und Denis Ribeaud in der heutigen NZZ berichten („Tabuisierte sexuelle Gewalt unter Jugendlichen“; NZZ vom 28. November 2006, S. 55).

Da die Resultate dieser Studie in teilweise frappantem Kontrast zur medienöffentlichen Meinung steht, zitiere ich hier die wichtigsten Resultate:

Im Jahr 1999 wurden über 2600 15-Jährige aus dem Kanton Zürich nach ihren Erfahrungen mit Gewalt befragt. Dabei ging es sowohl um die aktive Ausübung von Gewalt seit dem 13. Lebensjahr als auch um Erlebnisse als Opfer.

Folgendes wurde dabei festgestellt:

  • […] dass im Kanton Zürich jedes Jahr etwa 800 Mädchen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren Opfer von sexueller Gewalt werden. In der ganzen Schweiz dürften es mehrere tausend sein.
  • [Zur Frage, ob sexuelle Gewalt zu- oder abnahm:] In Deutschland liegen für mehrere Städte wiederholte Dunkelfeldbefragungen vor, die auf einen merklichen Rückgang in den vergangenen 8 Jahren hinweisen.
  • Minderjährige sind im Kanton Zürich bei dieser Altersgruppe für mindestens jedes dritte Opfer von sexueller Gewalt, also für rund 300 Fälle pro Jahr verantwortlich.
  • In den meisten Fällen kennen sich Täter und Opfer, die Delikte ereignen sich in der Regel in Wohnungen des Täters beziehungsweise des Opfers oder im Umfeld von Partys und Discos.
  • Wenn die Täter Erwachsene waren, gaben 17 Prozent der Opfer an, das Delikt bei der Polizei angezeigt zu haben. In den Fällen mit minderjährigen Tätern waren es nur 3 Prozent.
  • [Auf die Frage, weshalb die jugendlichen Opfer keine Anzeige erstatteten] nannten [sie] Gründe, in denen sie ihre Abgrenzung von der Erwachsenenwelt zum Ausdruck bringen. Angst vor dem Täter wurde hingegen praktisch nie als Motiv genannt.
  • Die Ergebnisse bestätigen nur teilweise die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt unter Jugendlichen ein «Balkanproblem» sei. Die grösste Gruppe der Täter waren Schweizer, die etwa 35 Prozent ausmachten. Rund 25 Prozent stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien und etwa 15 Prozent aus der Türkei.
  • Wichtig ist schliesslich zu beachten, dass sexuelle Belästigung unter Jugendlichen, besonders an Schulen, ein sehr viel breiteres und mit den Mitteln des Strafrechts nicht zu bewältigendes Problem darstellt. In der Zürcher Studie gaben rund 25 Prozent der befragten Neuntklässler an, an ihrer Schule sexuelle Belästigungen unter Schülern zu beobachten.

In der Medienberichterstattung zum Fall erhält man rasch den Eindruck, dass die „Jugend“ in dieser Kriminalität besonders starke Empörung hervorruft. Eisner und Ribeaud nennen Gründe, weshalb es besonders schwierig ist, Gewalt unter Jugendlichen zu unterbinden: Die Abgrenzung der Jugendlichen von der Erwachsenenwelt, aber auch die Breite des Phänomens.

Die Hilflosigkeit der „Gesellschaft“ (auch sie wird besonders oft zitiert) zeigt sich in Nomina, wie wir sie gestern schon beschrieben haben. Und in einer breiten Palette an Menschen und Institutionen, die sich um die Jugend kümmert: Von der Jugendforensik bis zum Jugendversteher. Ob die „Jugendlichen“ wirklich verstanden werden?

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Eine Antwort zu Die Jugend

  1. Sprechtakel sagt:

    Bereits in Einträgen zwei Einträgen (hier und hier) befasste ich mich mit der Berichterstattung zum „Vergewaltigungsfall in Seebach“.

    Ein Kommentator der ersten Analyse störte sich anscheinend an der Nennung der SVP im Zusammenhang der Analyse und

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