Die Schweiz und das Deutsche

Man liest wieder allenthalben und allenthalben von den Schwierigkeiten der Schweizerinnen und Schweizer mit der deutschen Sprache. Mathieu von Rohr beklagt im Magazin Nr. 6:

Fremdsprache Deutsch. Die Deutschschweizer entfremden sich vom Hochdeutschen und verkriechen sich im Dialekt. Helfen kann nur der Psychiater.
Das Magazin, Nr. 6, S. 14/15

In der Tat: Wahrscheinlich wurde noch nie so viel Schweizerdeutsch geschrieben wie heute.Eine Untersuchung des Linguisten Joachim Scharloth ergab

dass bereits 58% der Deutschschweizer ihre E-Mails teilweise in Schweizerdeutsch verfassen; bei SMS liegt diese Quote sogar bei 75%.
Scharloth 2005

Was zeigt uns das? Die meisten Deutschschweizerinnen und -schweizer empfinden „Hochdeutsch“ als Fremdsprache, die man lernen muss, und trotzdem nie so gut sprechen kann, wie die Deutschen. Dieses Verquere Verständnis des deutschen Standards zeigt sich auch in der Bezeichnung dieser Sprache: Schriftdeutsch. Dass man dieses Unding von Sprache auch mit Lust zum Sprechen verwenden könnte, scheint uns unmöglich. (Achten Sie mal darauf, wie sie den folgenden Satz aussprechen würden: „Hier haben Sie einmal einen Kaffee!“ Als Schweizerin oder Schweizer lesen sie den wahrscheinlich so, wie er da steht. Nördlich des Rheins tönt das aber eher so: „Hier-hamsemal-nen-Kaffee!“)

Wir Schweizerinnen und Schweizer haben einen Hochdeutschkomplex. Die bereits oben zitierte Untersuchung von Joachim Scharloth (2005) zeigt nämlich, dass wir zwar finden, das Schweizer Hochdeutsch unterscheide sich vom deutschländischen Standard, jedoch letzteren mit höherem Prestige verbinden und so schweizerische Varianten als missglückten Standard betrachten.

Stattdessen könnten wir das machen, wass die Bayern, Schwaben, Hessen, Kölner, Sachsen etc. ebenfalls machen: Neben dem Dialekt einen (hochdeutschen) Standard verwenden, bei dem gewisse Abweichungen völlig normal sind, und damit nicht gegenüber einem imaginierten „höheren“ Standard minderwertig ist. Oder in den Worten von Joachim Scharloth:

(1) In einem Staat muss eine von der Norm anderer Sprachgemeinschaften abweichende Gebrauchsnorm existieren (Ebene des Sprachgebrauchs).

(2) Diese Gebrauchsnorm muss durch Kodizes zu einem nationalen Standard erhoben werden (Ebene der Normsetzung).

(3) Schließlich muss ein Bewusstsein davon existieren, dass jedes nationale Zentrum eine je gleichberechtigte Variante der Standardvarietät besitzt (Ebene des Sprachbewusstseins).

Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass die weithin als fremd empfundene deutschländische Standardsprache zwar als Prestigevarietät fungiert, Deutschschweizer aber im Bewusstsein leben, diese Varietät wie eine Fremdsprache erlernen und pflegen zu müssen. Weil ihr Sprachgebrauch aber faktisch von der deutschländischen Standardnorm abweicht, setzt sich die Überzeugung durch, nicht richtig Hochdeutsch zu können.

Eine wesentliche Bedingung dafür, dass schweizerhochdeutsche Varianten das Stigma verlieren, schlechtes oder gar fehlerhaftes Hochdeutsch zu sein, wäre demnach ein Plurizentrizitätsbewusstsein.
Scharloth 2005

Na dann: Bestellen Sie doch ihr Bier mal auf Standard! Und ja, sie dürfen dem Ding ruhig „Stange“ sagen…

Scharloth, Joachim (2005): Zwischen Fremdsprache und nationaler Varietät. Untersuchungen zum Plurizentrizitätsbewusstsein der Deutschschweizer. In: Rudolf Muhr (Hrsg.): Standardvariationen und Sprachideologien in verschiedenen Sprachkulturen der Welt / Standard Variations and Language Ideologies in Different Language Cultures around the World. Frankfurt am Main u.a.: Lang. S. 21-44.

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3 Antworten zu Die Schweiz und das Deutsche

  1. Ingo Jarosch sagt:

    Herrlicher Artikel, es macht Spaß, jemanden zu finden, der der Sprache mächtig ist!
    PS: „Hier haben Sie einmal einen Kaffee!“ würde ich so sprechen:
    „Hia-hammsemalen-Kaffee!“, oder noch besser: „Hia-hammsemaln-Kaffee!“ ;-))
    LG Ingo

  2. Sprechtakel sagt:

    Kürzlich habe ich wieder mal eine E-Mail von einer Bekannten erhalten. Das ist natürlich schön. Über den Inhalt möchte ich nicht sprechen, aber über die Form. Genauer: Die Sprache.

    Die E-Mail war auf Schweizerdeutsch verfasst. Ich antwortete im h

  3. Sprechtakel sagt:

    „Massnahmen gegen die Mundartwelle“; das Echo der Zeit sendete heute Abend einen interessanten Beitrag. Dieter Kohler besuchte Basler Primarschülerinnen und -Schüler, deren Unterricht konsequent auf Standarddeutsch gehalten ist. Auch beim Werken und Tur

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