Man liest sich gern

Eine besondere Lektüre war das: Letzten Donnerstag las ich in der NZZ im Protokoll der Sitzung des Zürcher Gemeinderats. Neben anderen Geschäften behandelte dieser die Frage, wie denn seine Sitzungen protokolliert werden sollten. Es lag ein Vorschlag auf dem Tisch, eine 50%-Stelle dafür zu schaffen: Es solle jemand eingestellt werden, der Tonaufzeichnungen der Sitzungen transkribiert, wie das im Berner Stadtparlament bereits erfolgreich gemacht würde.

Warum das alles? Weite Teile des Parlaments sind mit den bisherigen Protokollen nicht zufrieden. Es handelt sich dabei mehr oder weniger um Beschlussprotokolle, in der die schmucke Rhetorik der Reden zu wenig gewürdigt würde. Deshalb:

Christoph Hug gp. erläutert den Mehrheitsantrag zum Thema Protokollierung. Der Gemeinderat hat ein Protokoll, das man aber nicht wirklich als solches bezeichnen kann. Die politischen Diskussionen, die zu den Beschlüssen führen, fehlen dort. Wir schlagen ein substanzielles Protokoll vor. (…) Ich habe (…) das sogenannte Berner Modell studiert. (…) Die Ratssitzungen werden substanziell protokolliert. Während der Sitzung läuft ein Tonband. Die Voten werden danach mit Hilfe des Tonbands aufgeschrieben. Der Gesamtaufwand beträgt 50 Stellenprozente, die Arbeit wird von Studenten erledigt.
Aus dem Protokoll der NZZ vom 2. Februar 2006, S. 59

„Aber“, bin ich versucht den Debattierenden zuzurufen, „es gibt doch da nochwas! Das, was ich jetzt gerade lese! Das NZZ-Protokoll!“ Und da, sie haben mich erhört:

Balthasar Glättli (gp.) ist befremdet davon, dass es noch Ratsmitglieder gibt, die glauben, es handle sich bei den Verhandlungen des Rats um Peanuts. Das Protokoll zu machen, darf nicht Aufgabe der Medien sein. Es gibt zwar ein Mini-Protokoll der NZZ. Da fehlen manchmal aber Voten, es hat Fehler oder es sind nur die Sätze der Voten aufgeführt, welche der Journalist für wichtig hält.
Aus dem Protokoll der NZZ vom 2. Februar 2006, S. 59

Aha, zu freisinnig-parteiisch wohl ist das NZZ-Protokoll. Ob dieser Schmäh am NZZ-Protokoll wundere ich mich schon über die Gleichmut des NZZ-Protokollanten, der die Voten brav (und irgendwie ausführlicher als sonst, wie mir jetzt scheint) notiert. Erst später lese ich dann im Überblicksartikel zur Sitzung:

Immerhin gibt es aber eine Zeitung, deren Journalisten sich jeden Mittwochabend mit frisch gespitzten Ohren in den Ratsaal setzen. Am Donnerstag findet sich das eine Seite umfassende Resultat auf der Ratsprotokollseite im Zürich-Teil der NZZ – aber es sei hier offen eingestanden: Wir Journalisten sind weniger an den rhetorischen Rittbergern und den argumentativen Fechtkünsten der Ratsmitglieder interessiert, sondern an Fakten, Fakten, Fakten.
NZZ vom 2. Februar 2006, S. 55: Das Parlament im Originalklang

Der NZZ-Protokollant wollte vielleicht mit seinem Protokoll dieser speziellen Sitzung beweisen, dass die Unzufriedenheit des Gemeinderats mit seinen Redespuren in der Welt ungerechtfertigt sei. Doch wurde trotzdem von niemandem der Vorschlag gemacht, die eigene Protokollierung der Sitzungen gerade ganz wegzulassen und stattdessen der NZZ zu vertrauen. Findige FDPler hätten das doch als Public-Private-Partnership verkaufen können! Immerhin, ein Blick lesender SVPler nimmt die NZZ in Schutz:

Arthur Bernet (svp.) ist schockiert darüber, dass man die schnelle Berichterstattung der NZZ heruntermacht. Sie hat nicht die Qualität eines substanziellen Protokolls. Die Redaktoren der NZZ verdienen aber Dank und Anerkennung. Sie zeigen, dass sich Mundartvoten in NZZ-Deutsch übertragen lassen. Wenn ich im Rat einmal den „Blick“ lese und eine Debatte nicht so aufmerksam verfolge, kann ich diese am nächsten Tag in der NZZ meist nachvollziehen.
Aus dem Protokoll der NZZ vom 2. Februar 2006, S. 59

Nun denn, der Gemeinderat musste sich selbst helfen. Die „Luxusvariante“, Tonaufnahme und anschliessendes Transkribieren, hatte keine Chance. Stattdessen formulierte die SVP einen Kompromiss: Bloss die Tonaufzeichnung sollte reichen, die Verschriftlichung, deren Nutzer auch

Studierende, Forschende und die Medien
Aus dem Protokoll der NZZ vom 2. Februar 2006, S. 59

hätten sein können, sei zu teuer. Leider folgte der Rat diesem Vorschlag. „Leider“, da ich als Korpuslinguist natürlich zur zu gerne auf transkribierte und mit den Tonaufnahmen alignierte Sitzungsprotokolle (wenn möglich bitte nach GAT-Regeln*!) zurückgegriffen hätte! Tja, da bleibt uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wohl nichts anderes übrig, als die Forschungsetats vom Kanton erhöhen zu lassen, wenn wir das Transkribieren selber besorgen müssen…

* Für Nicht-LinguistInnen: „GAT“ steht für Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem. Es sind Regeln darüber, wie Gespräche transkribiert werden sollen, damit auch das Augenrollen der SPler während der Ausführungen des SVPlers oder der zischelnde Kommentar der FDPlerin an ihre Kollegin während der Rede des Ratspräsidenten mit den richtigen Betonungen erfasst werden kann.

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