Bubenhofer, Noah (2020): Visuelle Linguistik. Zur Genese, Funktion und Kategorisierung von Diagrammen in der Sprachwissenschaft. Linguistik – Impulse & Tendenzen, 90. Habilitationsschrift, angenommen von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich. De Gruyter, Berlin
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Abstract
Diagramme sind ein wichtiges Element wissenschaftlichen Arbeitens und spielen auch in der Linguistik eine bedeutende Rolle. So werden Diagramme beispielsweise in Form von Balken-, Linien- oder Streudiagrammen (also Achsendiagrammen) verwendet, um Ergebnisse empirischer Auswertungen zu präsentieren. Oft dienen sie aber auch dazu, Daten überhaupt erst analysierbar zu machen, etwa indem in der Linguistik Aussprachevarianten auf Karten oder Wortassoziationen in großen Korpusdaten als Netzwerk dargestellt werden. Es handelt sich dann um Visualisierungen zur Exploration von Daten. Schließlich werden aber auch theoretische Modelle, wie etwa Zeichenbegriffe, Kommunikationsmodelle etc. in Diagrammen visualisiert.
Die Habilitationsschrift untersucht die Verwendung und die Funktionen von Diagrammen in der Linguistik, auch in historischer Perspektive, und versucht eine Kategorisierung der verschiedenen Typen. Dabei werden fünf für die Linguistik besonders wichtige „diagrammatische Grundfiguren“ herausgearbeitet: Listen, Karten, Partituren, Vektoren und Graphen. Diese Grundfiguren sind es, die Sprache oder Sprachgebrauch als je spezifische Untersuchungsgegenstände konstituieren. Damit wird auch deutlich, dass das „Diagrammatische“ weit über den engen Kreis von Diagrammen wie Achsendiagrammen, Karten und Netzen hinausgeht und beispielsweise eine Konkordanzliste als Index oder ein Gesprächstranskript zur Visualisierung von gesprochener Sprache deutlich diagrammatischen Charakter aufweisen.
Mit Bezug auf Theorien der Diagrammatik (insbesondere nach Sibylle Krämer) kann aufgezeigt werden, wie die genannten diagrammatischen Grundfiguren Daten transformieren und ermöglichen, dass durch ihre Operationalität dadurch im besten Fall neue Erkenntnisse gewonnen werden können.
Zur Einbettung der diagrammatischen Betrachtungsweise in eine Perspektive auf wissenschaftskulturelles Handeln wird Ludwik Flecks Denkstil-Konzept eingesetzt: Damit zeigt sich, dass Visualisierungen generell wichtiges Element wissenschaftlicher Praxis und Ausdruck von spezifischen Denkstilen sind. Sie dienen damit auch der Kanonisierung wissenschaftlichen Wissens, enthalten aber auch das Potenzial, Denkstile durchbrechen zu können.
Dritter wichtiger Aspekt der Betrachtung ist eine Reflexion über die Funktionen und Wirkungsweisen algorithmisch erstellter Diagramme, die bei quantitativen, z.B. korpuslinguistischen Analysen eine besonders wichtige Rolle einnehmen. Der gegenstandskonstituierende Effekt von Diagrammen wird bei digitalen Daten noch deutlicher, da mit der „Verdatung“ von Sprache eine Vielzahl von diagrammatischen Operationen in mathematischen oder geometrischen Räumen möglich werden. Programmieren und digitale Verarbeitung sind deshalb an und für sich mit diagrammatischen Operationen verbunden, unter wissenschaftskultureller Perspektive wird zudem deutlich, dass Praktiken des Programmierens wiederum als Teil wissenschaftlicher diagrammatischer Praxis verstanden werden müssen. Mit einem Blick auf „Coding Cultures“ wird dieser Aspekt herausgearbeitet.
Schließlich wird anhand von drei Fallbeispielen diagrammatische Praxis dargestellt und reflektiert. Es handelt sich um die Visualisierung von „Geokollokationen“ (Verknüpfung von diskursivem Sprachgebrauch und Ort), von narrativen Mustern und von gesprochensprachlicher Interaktion.
Als Fazit wird eine integrierte diagrammatische Methodologie vorgeschlagen, mit der die eigene diagrammatische Praxis verortet und reflektiert werden kann. Sie soll auch dazu verleiten, verstärkt diagrammatische Experimente zu wagen, um herrschende Denkstile zu durchbrechen.