Kreative Konstruktion

Einführung in den Konstruktivismus

Noah Bubenhofer

Schriftliche und erweiterte Fassung eines Referates, gehalten am 1. Dezember 1999 anlässlich des Seminars "Einführung in die Kommunikationssoziologie" von Dr. Claus-Heinrich Daub, Universität Basel

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

© by 1994 by Carlsen Verlag, Hamburg

Julius Corentin Acquefacques hat den falschen Traum erwischt. Die Titelfigur in Marc-Antoine Mathieus Comic-Strip "Der Wirbel" irrt zwischen zwei- und dreidimensionalen Traumwelten und vermeintlichen Realitäten umher.

Die Konstruktivisten bezweifeln die Existenz einer Wirklichkeit und sind von unserer Kreativität, eigene Welten zu bauen, überzeugt. Diese Arbeit versucht einen Einblick in den radikalen Konstruktivismus zu geben.

Wurzeln

Die Gedanken der radikalen Konstruktivisten sind nicht ganz neu. Ob jedoch z.B. Demokrits Aussage, dass wir nicht erkennen könnten, wie in Wirklichkeit ein jedes Ding beschaffen oder nicht beschaffen sei (Capelle: 437), schon ein Indiz für den Zweifel an er Realität ist, kann aus heutiger Sicht nicht eindeutig beantwortet werden. Die kopernikanische Wende im 18. Jh. schuf aber klar die Grundlage für das Theoriegebäude der Konstruktivisten.

Kants kopernikanische Wende

In der 1781 erstmals erschienenen "Kritik der reinen Vernunft" trat Immanuel Kant gegen die damals herrschende Philosophie des Rationalismus und der Empirie entgegen. Schwanitz verpackt Kants Erkenntnis in den Satz: "Er [Kant] drehte die Blickrichtung um, und siehe da, der Verstand hörte auf, sich um die Realität zu drehen, und die Erde der Erfahrungswelt drehte sich um die Sonne des Verstandes." (Schwanitz: 336f) Der Verstand konstruiert also die empirische Welt. Er hat keinen Zugang zum 'Ding an sich', zur 'wirklichen Welt'. Der Verstand ist Ursprung der Welt und beinhaltet die Kategorien, womit wir die Welt beobachten.

Durkheims Wissenssoziologie

Nach Durkheim besteht Wissen aus "Vorstellungen von Wirklichkeit(en) und Handlungen, die als Wirklichkeitskonstrukte verstanden werden können" (Hejl: 48). Diese Konstrukte ('conscience commune'/'conscience collective') sind einerseits emotionalen Ursprungs, andererseits stammen sie aus dem Wissen über die Welt und wie in ihr erfolgreich zu handeln ist. Durch die Autonomisierung verselbstständigen sich Konzepte, Kategorien und Klassifikationen, die von der Gesellschaft konstruiert wurden, und entfernen sich von ihrem Entstehungszusammenhang. Dabei treten horizontale und vertikale Wechselwirkungen auf: Verschiedene Vorstellungen beeinflussen sich gegenseitig (horizontal) und die autonomisierten Konstrukte wirken wieder zurück auf die Gesellschaft (vertikal).

Im Zusammenhang mit seinem Hauptwerk "De la division du travail social" (1893) verweist Durkheim darauf, dass ursprünglich die idealtypische Gemeinschaft (nach Tönnies) bestand, wobei alle Mitglieder die gleiche Vorstellung von Wirklichkeit hatten. Mit der Entwicklung der Gesellschaft, mit der Arbeitsteilung, entstanden aber immer mehr viele verschiedene Vorstellungen.

Radikaler Konstruktivismus

Heinz von Foerster stellt in seiner Kurzfassung einer Einführung in den Konstruktivismus eine einfache Frage, die verdeutlicht, in welche Richtung diese Theorie steuert:

"Fragen Sie einen Menschen, ob die folgenden Begriffe Entdeckungen oder Erfindungen sind: Ordnung, Zahlen, Formeln, Symmetrien, Naturgesetze, Gegenstände, Taxonomien, usw. Neigt er dazu, diese Begriffe als Erfindungen zu bezeichnen, so haben Sie es mit einem Konstruktivisten zu tun." (Foerster: 45)

Grundidee

Sowohl die philosophische Tradition, als auch die Vertreter des radikalen Konstruktivismus unterscheiden deutlich zwischen einer 'ontologischen Wirklichkeit' und der 'Welt der fassbaren Erlebnisse'. Streitpunkt ist nun, wie die Verbindung zwischen diesen beiden Welten beschaffen ist. In der philosophischen Tradition ist von einer 'isomorphen, ikonischen Relation' die Rede. D.h., es besteht eine abbildende Verbindung, die gleichförmig ist. Unsere Wahrnehmung eines Stuhles z.B. ist - nach traditioneller Auffassung - vielleicht nur annähernd richtig, doch auf jeden Fall mit dem ontologischen Stuhl übereinstimmend; der Stuhl, wie wir in wahrnehmen, kann als Ikone des 'richtigen' Stuhls angesehen werden.

Die radikalen Konstruktivisten hingegen sehen zwischen den beiden Welten eine 'viable Relation'. "Das heisst, etwas wird als 'viabel' bezeichnet, solange es nicht mit etwaigen Beschränkungen oder Hindernissen in Konflikt gerät." (Glasersfeld: 19)

Der Mensch (ein System, dazu später mehr) bewegt sich sozusagen im 'Trial-And-Error'-Verfahren durch die Welt und konstruiert sich dabei eine Vorstellung wie die Welt aussehen muss. Seine Vorstellung wird immer feiner und ausgefeilter, er wird immer weniger 'Errors' erleben, da er sich auf seine gemachten Erfahrungen stützen kann.

Allerdings hat er nie die Gewissheit, alle möglichen (gangbaren/viablen) Wege durch die Welt gefunden zu haben. Zudem kann er nicht darauf schliessen, dass seine konstruierte Welt ein Abbild der ontologischen Wirklichkeit ist, denn "wer meint, an den Grenzen seiner Bewegungsfreiheit [dort, wo ein 'Error' aufgetreten ist, Anm. nb] die ontische Wirklichkeit zu erkennen, ist ebenso irregeführt wie ein Autofahrer, der die Stelle, wo ihm das Benzin ausgeht, für das Ende der Strasse hält." (Glasersfeld: 31)

Die Sinnesorgane eines lebenden Systems melden also nur das Anstosssen an ein Hindernis, vermitteln aber niemals Merkmale oder Eigenschaften dessen, woran sie anstossen. Foerster (Foerster: 56) wies z.B. darauf hin, dass unser Auge ja auch nach diesem Prinzip arbeite: Die Stäbchen und Zäpfchen im Augapfel leiten je nach Helligkeit eine Reizung weiter, bieten aber keine Informationen über den Farbwert an. Den Eindruck einer Farbe kreiert das Gehirn selber. Nach konstruktivistischer Auffassung ist demnach Wahrnehmung kreativ: Sehen bedeutet Farben zu erfinden, hören, Töne zu kreieren und riechen, Düfte zu schaffen. Die Eigenschaften der Objekte stammen also aus der Art und Weise, wie wir die Sinnesorgane interpretieren.

Da ein lebendes System lernfähig ist, verwendet es nie alle vorhandenen Signale, sondern ergänzt sie nach Bedarf durch 'Erfahrungswerte'. 'Nach Bedarf' meint: Je nach Zusammenhang; und dieser erfordert nie, dass das lebende System die Umwelt so sieht, wie sie 'in Wirklichkeit' ist, sondern er verlangt, dass das, was das System wahrnimmt, es zu erfolgreichem (viablem) Handeln befähigt.

Ziel von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wissenschaft ist also nicht eine möglichst 'wahrheitsgetreue' Vorstellung der ontologischen Welt, sondern das Erfinden einer Welt, die viabel, bzw. brauchbar für zielstrebiges Handeln ist.

Nach Meinung der radikalen Konstruktivisten kann die ontologische Wirklichkeit nicht erkannt werden, da sie dort beginnt, wo das, was wir als Handeln erleben, behindert oder scheitert. Kritiker finden nun, dies komme einer Streichung der ontologischen Wirklichkeit gleich, wobei es überflüssig würde, von einer konstruierten Welt zu reden. Diese könne es nur geben, wenn es auch die ontologische Wirklichkeit gebe.

Objektivität und ontologische Wirklichkeit

'Objektivität' wird gemeinhin als einzig 'richtige' Beschreibung eines Objektes oder Sachverhaltes angesehen. Aus der Perspektive des radikalen Konstruktivisten jedoch kann es keine solche Objektivität geben. Schliesslich kann ich nie ausschliessen, dass es neben dem viablen Weg, den ich gefunden habe, nicht noch weitere geben könnte.

Das heisst aber nicht, dass die Konstruktivisten den Begriff der Objektivität gänzlich aus ihrer Konstruktion gestrichen hätten. Um dies zu erklären, hole ich etwas aus:

Wie gezeigt, konstruiert sich das Subjekt aus den Eindrücken von aussen eine eigene, kohärente Wirklichkeit. Gleichzeitig konstruiert das Subjekt sich selbst. Es distanziert sich von der geschaffenen äusseren Wirklichkeit und schreibt sich selbst bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten und Funktionen zu.

Tritt ein anderes Subjekt auf, unterschiebt das erlebende Subjekt automatisch sein eigenes Handeln und Denken dem anderen. Es nimmt an, dass das andere Subjekt in ähnlicher Art und Weise handelt. Dabei prüft das Subjekt kontinuierlich, ob seine konstruierte Wirklichkeit kohärent ist und passt sie gegebenenfalls an (Viabilität). So helfen die Bestätigung eines eigenen Erlebnisses durch sprachliche Interaktionen mit einem anderen und die erfolgreiche Interpretation der Handlungen anderer mit Hilfe eigener kognitiver Strukturen, die Vorstellung der 'Wirklichkeit' zu erhärten.

Und da kommt die Objektivität wieder ins Spiel: Wenn die Begriffe und Vorstellungen eines Subjekts sich auch in den Modellen anderer Subjekte als viabel erweisen, dann geniessen sie eine Gültigkeit, die als 'objektiv' bezeichnet werden kann. Objektiv nach konstruktivistischer Auffassung sind also schlicht jene Meinungen und Vorstellungen, die von möglichst vielen Subjekten, bzw. lebenden Systemen, geteilt werden.

Annäherungsversuche

Im Folgenden versuche ich einige praktische Beispiele und logische Überlegungen darzustellen, die die Ideen des Konstruktivismus etwas fassbarer machen sollen.

Die Sicht der Dinge

Paul Watzlawick, Professor für Psychotherapie, erwähnt an einigen Stellen ein illustratives Beispiel für eine konstruktivistische Sichtweise:

Am Ende einer erfolgreichen Kurzbehandlung umreisst die Patientin, eine junge Frau, die grundsätzliche Änderung in der konfliktreichen Beziehung zu ihrer Mutter mit den Worten: "So wie ich die Lage sah, war es ein Problem; nun sehe ich sie anders, und es ist kein Problem mehr." Von dieser Äusserung liesse sich einerseits sagen, dass sie die Quintessenz therapeutischen Wandels darstellt; andererseits könnte man sehr wohl einwenden, dass sich nichts 'wirklich' verändert habe - ausser bestenfalls etwas so Subjektives wie eine 'Ansicht' oder eine 'Einschätzung'. (Watzlawick: 89)

Die Wahrnehmung der Wirklichkeit kann sich also ändern, ohne dass sich in der ontologischen Wirklichkeit etwas verändert, weil das Subjekt eben nur die konstruierte Wirklichkeit angepasst hat. Und dies als Reaktion auf eine veränderte Wahrnehmung, bzw. weil ein 'Error' aufgetaucht ist und ein neuer Weg gefunden werden muss, um die geschaffene Wirklichkeit kohärent halten zu können.

Triviale und Nicht-triviale Maschinen

Unsere Beobachtungen der Welt sind massgeblich vom Ursache-Wirkungs-Prinzip beeinflusst. Alle Naturgesetze, die die Menschheit in ihrer Entwicklunggeschichte aufstellte, sind abgeleitet aus Beobachtungen. Im Hinterkopf sitzt dabei das Modell der 'trivialen Maschine', wie sie von Foerster nennt (Foerster: 60).

Eine triviale Maschine verwandelt einen Input x zum Output y. Es ist beispielsweise an eine Rechenmaschine zu denken, die, wenn ich die Zahlen 2 und 5 eingebe, das Resultat 7 ausgibt. Oder aber das Steueramt, wohin ich meine Steuererklärung schicke und die Rechnung zurück erhalte. Es handelt sich also um ein Gebilde, das eine Operation an einer Eingabe x vornimmt und dabei das Resultat y ausspuckt: Op(x) > y

Gesetzt den Fall, ich weiss nicht, worin die Operation der Maschine genau besteht, kann ich das durch eine Reihe von Versuchen relativ schnell herausfinden. Nach wenigen Versuchen mit verschiedenen Zahlen werde ich meiner Rechenmaschine (mit Recht) unterstellen, dass sie die Zahlen zusammenzählt. Beim Steueramt ist es vielleicht etwas schwieriger, die Gesetzmässigkeiten herauszufinden, doch eine gross angelegte Untersuchung mit 1000 systematisch aufeinander abgestimmten Steuererklärungen würde den Mechanismus realtiv transparent machen.

Etwas anders sieht es bei einer 'Nicht-trivialen Maschine' aus. Diese unterscheidet sich von der trivialen Maschine dadurch, dass sie eine Zustandänderung vornehmen kann. Je nach Eingabe x und/oder Ausgabe y kann sich der Zustand z verändern: Opz(x) > y

Es könnte z.B. sein, dass mein Rechner immer dann, wenn ein Resultat 7 ergab, den Addier-Zustand zu einem Subtrahier-Zustand verändert, bis wieder ein Resultat 7 auftaucht. Oder die Laune eines Mitarbeiters des Steueramtes verschlechtert sich immer dann, wenn die Berufsangabe auf der Steuererklärung 'Arzt' lautet, so dass er keine Abzüge für Bildungskosten akzeptiert und die Rechnung deshalb höher ausfällt.

Möchte man bei einer Nicht-trivialen Maschine die Funktion analysieren, muss bedeutend länger beobachtet werden. Stellt man sich dabei eine Maschine vor, die noch um einiges komplexer funktioniert, indem sie z.B. mehrere tausend verschiedene Zustände einnehmen kann, ist eine Analyse praktisch nicht mehr möglich. Das Funktionieren der Maschine wird damit unvoraussagbar.

Wenn Wissenschaftler jedoch die Schwerkraft, oder die Funktionsweise eines Gehirns erklären, sind sie meist der Überzeugung, es mit einer trivialen Maschine zu tun zu haben. Spielt man jedoch mit dem Gedanken, dass z.B. Naturphänomene eher einer Nicht-trivialen Maschine ähneln, können wir auch heute noch nicht ganz sicher sein, dass Schwerkraft 'tatsächlich existiert' und nicht vielleicht doch nur ein Erklärungsprinzip ist - eine Vorstellung, die uns besonders viabel erscheint, um uns auf der Welt zurecht zu finden.

Konstruktivismus und Soziologie

Systeme

Im ersten Teil dieser Arbeit stiessen wir schon mehrere Male auf den Begriff des Systems: 'Lebendes System' aufgefasst z.B. als Mensch, als denkendes Subjekt.

Der Konstruktivismus unterscheidet drei Arten von Systemen: selbstorganisierende oder selbsterzeugende Systeme, selbsterhaltende Systeme und selbstreferentielle Systeme.

Ein System ist jedoch nicht zwangsweise gleichbedeutend einer biologischen Einheit. So kann z.B. auch ein Atom mit seinem Proton und Elektron als System aufgefasst werden. Oder es können die vielfältigen ökonomischen Vorgänge nach unserem Verständnis als ein Wirtschaftssystem gesehen werden.

selbstorganisierende oder selbsterzeugende Systeme

Diese Systeme entstehen aufgrund bestimmter Anfangs- und Randbedingungen spontan. Das System nimmt dabei einen spezifischen Zustand oder eine Folge von Zuständen ein.

Beispiele dafür können in der Chemie gefunden werden: Die sich bildende Struktur eines Proteinmoleküls, die spontan entsteht, sobald die notwendigen Faktoren vorhanden sind. Oder die Herausbildung eines menschlichen Organs - z.B. des Herzens.

selbsterhaltende Systeme

Im Gegensatz zu den oben beschriebenen selbsterzeugenden Systemen sind selbsterhaltende Systeme in der Lage, immer wieder neu die Faktoren zu produzieren, die zu ihrem ursprünglichen Entstehen beigetragen haben. Sie sind also überlebensfähig.

Der menschliche Körper ist (bis zu einem gewissen Grad) ein solches selbsterhaltendes System. Das Herz ist alleine nicht überlebensfähig. Erst im Verbund mit anderen Organen ensteht aus dem gesamten System ein selbsterhaltendes System. Beim Menschen - und allen organischen Systemen - allerdings nicht bis in die letzte Konsequenz. Ansonsten wären wir tatsächlich unsterblich.

selbstreferentielle Systeme

Zusätzlich zu den beiden grundlegenden bereits beschriebenen Systemen gibt es noch den Begriff des selbstreferentiellen Systems. Diese verändern die Zustände ihrer Komponenten in operational geschlossener Weise - sind also nicht auf Faktoren von 'aussen' angewiesen.

Die oben beschriebenen selbsterhaltenden Systeme sind immer auch selbstreferentiell. Ansonsten wären sie ja wieder auf den Einfluss eines selbsterzeugenden Systems angewiesen, das das Überleben ermöglichen würde.

Selbstreferentielle Systeme jedoch müssen nicht zwangsweise selbsterhaltend sein. Dies hat das Beispiel des Menschen ebenfalls gezeigt: Das System 'Mensch' ist nicht bis in die letzte Konsequenz selbsterhaltend.

Das Hirn ist z.B. ein selbstreferentielles System - jedoch kein selbsterhaltendes. Dazu braucht es die anderen Organe, damit es (annähernd) zu einem selbsterhaltenden System wird.

Wenn das Hirn als selbstreferentielles System betrachtet wird, dann muss Kognition also ein konstruktiver Prozess sein: Es sind nicht äussere Einflüsse, die den Zustand des Hirns ändern, sondern eigentlich simulierte - oder eben: konstruierte - 'äussere' Einflüsse.

Das lebende System 'Mensch' ist also ein selbsterhaltendes Gesamtsystem (mit allen seinen Organen), wobei das Hirn ein selbstreferentielles Subsystem davon bildet. Einflüsse, die von 'aussen' auf das Subsystem treffen, werden in einem konstruktiven Wahrnehmungsprozess interpretiert und rufen eine Zustandsänderung des Subsystems hervor. Das Subsystem konstruiert sich so eine Vorstellung der Umwelt.

Die Erfindung der Gesellschaft

Natürlich haben auch die radikalen Konstruktivisten eine Erklärung für das Phänomen 'Gesellschaft' parat. In der Literatur ist von "der Erfindung der Gesellschaft" (Hejl: 123) die Rede. Dies ist eine Folge davon, dass ein lebendes System eigentlich zu kreativ ist:

Die Entwicklung des Menschen läuft anscheinend parallel mit der Vergrösserung des Hirns. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein Leben nach dem Prinzip der Viabilität - also die Spezialisierung auf Anpassung - eine ständige Komplexifizierung des Gehirns verursacht. Die Menschen lebten jedoch in einer relativ stabilen selbsterzeugenden Umwelt. Ein derartiges Gehirnwachstum wäre für das Überleben eigentlich nicht nötig.

Es ensteht also ein 'Überschuss' an Verarbeitungsmöglichkeiten. Das System ist zu kreativ und ist nicht mehr sicher, welche Realität es aus den wenigen Signalen, die von aussen kommen, konstruieren soll. Es wird immer schwieriger, erfolgreich zu überleben. Das bedeutet also, dass Gehirnwachstum eine Gefahr für das System sein kann.

Andererseits wird durch dieses Potential an Kreativität das System überlebensfähiger, da es flexibler auf trotzdem auftretende Veränderungen der Umwelt reagieren kann.

Dieses Dilemma wird durch die Erfindung - oder Konstruktion - der Gesellschaft gelöst: Die Erfindung von Mythen, Religionen, Kunst, Wissenschaft etc. kanalisieren potentiell gefährliche Wirkungen der selbstreferentiellen Gehirne. Die lebenden Systeme konstruieren gemeinsam nutzbare Orientierungspunkte.

Zudem können sich die Systeme gegenseitig abstützen, indem sie ihre eigenen Realitätsvorstellungen mit jenen der anderen verknüpfen, und so eine 'objektive', von mehreren Systemen getragene Vorstellung kreieren. Dadurch können die Menschen ihre kognitive Systeme effizienter und innovativer nutzen.

Menschen leben sozial aus biologischen Gründen (Gehirnwachstum, zu grosse Kreativität) und können biologisch sein, weil sie sozial leben.

Schmidt entwickelte in diesem Zusammenhang die Idee des Computerprogramms (Schmidt: 127ff): In der Gesellschaft bilden sich Programme, die gewisse Mechanismen und semantische Definitionen beinhalten - z.B. von Dichotomien wie 'gut und bös', 'schön und hässlich' etc. - und "die in einer Gruppe akzeptierte Kommunikation" (Schmidt: 130) regeln.

Interaktionsprozesse

Im vorigen Kapitel wurde es schon angedeutet: Systeme können miteinander interagieren. Wie das aus der Sicht der Konstruktivisten funktioniert und was dann Kommunikation bedeutet, soll hier erläutert werden.

Der Systemzustand eines lebenden Systems wird durch einen Einfluss - durch Interaktion - verändert: Dieser Einfluss wäre also ein 'Error-Erlebnis', um die anfängliche Metapher weiter zu verwenden.

Eine Vorstellung von Welt wird so lange dem 'Trial-and-Error'-Verfahren ausgesetzt, bis keine Fehler mehr auftreten, die Welt viabel erscheint. Ist das nicht möglich, muss sich das System an ausserhalb liegenden Systemen mit ähnlicher Komplexität, z.B. anderen Menschen, orientieren. Solche wechselseitigen Interaktionen führen zu wechselseitigen Veränderungen und zu einer teilweisen Parallelisierung der selbstreferentiellen Subsysteme. Es enstehen ähnliche Vorstellungen von Wirklichkeit in den Köpfen mehrer Menschen. Dabei ensteht ein sozialer Bereich.

Ein solcher sozialer Bereich kann beispielsweise ein gemeinsames Wertesystem sein oder eine gemeinsame Sprache. Soziale Bereiche sind die Grundlage für Kommunikation und koordiniertes Handeln. Je ähnlicher die Sprache, je ähnlicher die Denksysteme zweier Systeme - einzelnen Individuen oder ganzen Gruppen von Menschen - sind, desto erfolgreicher wird die Kommunikation zwischen den beiden Systemen sein.

Die Sprache nimmt natürlich einen besonderen Status innerhalb der Kommunikationssysteme ein, da sie die Möglichkeit bietet, innerhalb des Systems dieses selber zum Gegenstand von Kommunikation zu machen. Dabei bezieht sich die Sprache nicht auf eine 'wirkliche Realität', sondern auf eine sozial konstruierte Realität.

Interessant am Kommunikationsbegriff der Konstruktivisten ist, dass nach deren Auffassung bei Kommunikation nicht wirklich Informationen zwischen verschiedenen Systemen hin- und hergeschoben werden, sondern die beiden Systeme das Handeln des Gegenübers beobachten: Ein lebendes System A hat keine Gewissheit, dass sein Gegenüber B einen Sprechakt tatsächlich so aufnimmt und interpretiert, wie A es intendierte. Es geht jedoch davon aus, dass B gleich funktioniert wie es selber. Die Antwort von B fasst dann A automatisch als passende Reaktion zu seinem ersten Sprechakt auf. Die Überprüfung der erfolgreichen Kommunikation erfolgt nur duch Beobachtung des darauf folgenden Handelns des Kommunikationspartners, wobei das System wieder eine Interpretation des Beobachteten vornimmt.

Überblick

Eine Grafik soll zum Abschluss noch einmal verdeutlichen, wie 'sozialer Bereich', 'soziales System' und 'Individuum' zusammenhängen:

Fazit

Viele Phänomene der Gesellschaft können mit Hilfe des Konstruktivismus, oder allgemein mit systemtheoretischen Überlegungen, besser analysiert werden. Einerseits betrifft dies Bereiche der Soziologie, andererseits aber auch kommunikationswissenschaftliche und z.B. literaturwissenschaftliche Gebiete.

Ob der Konstruktivismus uns jetzt dazu ermuntern soll, uns eine eigene, angenehme Realität zu schaffen, wie das Peter M. Hejl vorschlägt (Hejl: 144), oder wir die Theorie nur zu Analyse- und Beobachtungszwecken verwenden sollen, bleibe dahingestellt. Sicher ist aber, dass "eine konstruktivistische Sozialtheorie (...) natürlich ihrerseits ein Konstrukt" ist (Hejl: 109).

Literaturverzeichnis