Visuelle Linguistik

Ein Forschungsprogramm

Anlässlich des Herrenhäuser Symposiums "Visual Linguistics: Theory and Application of Visualization in Linguistics", 19. bis 21. November 2014, Hannover

Noah Bubenhofer

19. November 2014

Warum Visualisierungen?

Quelle: Bubenhofer: Die typische Bergtour

Chancen

  • Wichtiges Mittel zur Darstellung von Analyseergebnissen → Presentation Graphics
  • Visuelle Analysemethoden, um die Daten überhaupt überblicken und analysieren zu können → Exploratory Graphics

Chen et al. 2008, Keim et al. 2010

Fragen

  • Methoden der Visualisierung: Scientific Visualizations, Visual Analytics:
    "Die Methode muss dabei mit sehr großen Datenmengen, die
    • dynamisch,
    • ambig
    • und meist widersprüchlich sind, umgehen können,
    • bietet aber die Chance, auch unerwartete Zusammenhänge aufzeigen zu können." (Keim u. a., 2010, S. 7)
  • Visualisierungen aus diagrammatischer Perspektive:
    • Was sind Diagramme aus semiotischer Perspektive?
    • In welchem Wechselverhältnis stehen Diagramme, Daten und der Forschungsprozess?

    Keim u. a., 2010, S. 7; Chen u. a., 2008, S. 832; Dill u. a., 2012, S. 5
    Stetter 2005, Krämer 2009, Pombo/Gerner 2010, Stjernfelt 2007, Bauer/Ernst 2010

Das Diagramm

Platons Μένων

Sokrates spricht mit Menons Sklaven.

Code



	
	
	
	
	
	
	
	

				

Eigenschaften von Diagrammen

  • Gerichtete Fläche
  • Graphismus
  • Ikonizität
    "Das Diagramm-Ikon entwirft in der Darstellung eine Hypothese über den Gegenstand, indem es auf andere Wissensbestände zurückgreift. Mittels des Diagramms wird eine These entwickelt, die Wissen über das Objekt entwickelt. Diagrammatische Ikonizität ist daher nicht abbildende, sondern entwerfende Ähnlichkeit." (Bauer/Ernst 2010:44)
  • Operationalität

Peirce 1992 (Stjernfelt 2007); Krämer 2009

Visualisierungen in der Linguistik

Strukturalismus

Eine Struktur […] baut sich aus den Einzelphänomenen als eine höhere Einheit (eine Ganzheit) auf, und zwar so, daß diese Einheit ganzheitsstiftende Eigenschaften annimmt, die ihren Teilen nicht zukommen […]. Die Einzelphänomene sind nicht die separaten Bestandteile eines analysierbaren Ganzen, sondern, verbunden durch wechselseitige Beziehungen, sind sie, was sie sind, immer nur in bezug auf das hierarchisch geordnete Ganze.

Havránek 1943, 452, zitiert nach Thümmel 1993

Konstituentenstruktur

X A B C

Dependenzstruktur

A B C

Dependenzstruktur

Man kann so das Verb mit einem Atom vergleichen, an dem Häkchen angebracht sind, so daß es je nach der Anzahl der Häkchen eine wechselnde Zahl von Aktanten an sich ziehen und in Abhängigkeit halten kann. Die Anzahl der Häkchen, die ein Verb aufweist, und dementsprechend die Anzahl der Aktanten, die es regieren kann, ergibt das, was man die Valenz des Verbs nennt.

Tesnière (1959:161)

Konstruktionsgrammatik

Aus: Hein/Bubenhofer (im Druck)

Von der Lautäußerung zum Transkript

Wikipedia, Oszilloskop

Von der Lautäußerung zum Transkript

EXMARaLDA

Visualisierungen im Forschungsprozess

  • Visualisierungen sind weit mehr als nur ein Darstellen von Theorien oder Daten.
  • Visualisierungen transformieren, gewichten und filtern Daten und bringen sie in eine Form, die sie als Informationen fassbar machen.
  • Visualisierungen ermöglichen diagrammatische Operationen und sind damit Teil des hermeneutischen Prozesses.
  • Die Visualisierungspraxis können ein wissenschaftliches Paradigma (Kuhn 1962) formen.

New Visual Hermeneutics

Kath/Schaal/Dumm (im Druck)

Geokollokationen

Beispiel Gekollokationen

Diskurslinguistische Fragestellung: "Sprechen über Orte" – Konstruktion der Welt durch Sprachgebrauch

➔ Kollokatoren zu Toponymen

Beispiel Geokollokationen

  • Datengrundlage: Verschiedene Quellen, darunter:
    • Zeit Online 2013-heute: 50,5 Mio. Tokens
    • Spiegel und Zeit Print 1946/47-2010: 550 Mio.
    • D Bundestagsprotokolle WP 17: 22,4 Mio. Tokens
  • POS-Tagging TreeTagger, Satzerkennung
  • Named Entity Recognition – Stanford NER/Pado: LOC, PER, ORG, MISC
  • Auswahl der Toponyme (LOC)
  • Berechnung signifikanter Kollokatoren (LLR) innerhalb des gleichen Textes/Satzes in dem das Toponym erschien
  • Vgl. www.bubenhofer.com/geocollocations/explorer/

Quelle: Bubenhofer: Geocollocations

Methodisch-theoretische Erkenntnisse

  • Teil des Forschungsprozesses sind:
    • Visuelle Analyse der Daten
    • Experimente mit unterschiedlichen Visualisierungsformen
    • Visualisierung als möglichen methodischen Zugriff identifizieren
  • Bestimmte Visualisierungsformen sind kanonisiert und bieten sich deshalb besonders an – im Beispiel: geografisches Mapping. Aber:
    • Stabile Formen der Visualisierung führen zu uniformen Interpretationen!
      "Es ist wahr, dass die DH, um die Intersubjektivität von Interpretation von Visualisierungen zu sichern, stabile Formen von Visualisierungen benötigt. Identische Formen von Visualisierungen legen jedoch auch pfadabhängige Interpretationen nahe, die ihre epistemische Autorität aus der identischen Reproduzierbarkeit von Visualisierungen ziehen." (Kath/Schaal/Dumm im Druck)
    • Welche Chancen der Visualisierung werden dabei vergeben?

Visuelle Linguistik: Thesen

D3.js Examples

Was ändert der Algorithmus?

  • Prädestiniert für datengeleitete, induktive Verfahren:
    1. Identifikation von Elementen, die von Interesse sind.
    2. Definition eines visuellen Mappings: Darstellung der Elemente.
    3. Algorithmische Verarbeitung der Daten.
    4. Muster werden sichbar (oder nicht).
  • Verstärkung des Effektes: Daten werden "einfach" sichtbar gemacht.
  • Der Algorithmus ist aber nicht neutral, sondern bereits hermeneutisch.

Algorithmische Visualisierung

In trying to understand the digital humanities, our first step might be to problematise computationality, so that we are able to think critically about how knowledge in the twenty-first century is transformed into information through computational techniques, particularly within software.

Berry (2012:6)

Folgen der Vielfalt algorithmisch erstellter Diagramme?

Zwischen kanonisierter Ikonizität und visuellem Experiment?

Die algorithmische Visualisierung befreit von visuellen Zwängen…

…der diagrammtisch notwendige Drang zu Schematismus und Ikonizität führt jedoch wieder zu Kanonisierung visueller Formen.

Best Practice für Diagrammspiele?

Visualisierung ist Teil des hermeneutischen Prozesses, daher:

  • Gibt es keine Best Practice für Visualisierungsformen (im Sinne von: Visualisierung X eignet sich für Y).
  • Es sind jedoch Best Practices denkbar für die Integration der Visualisierungspraxis in den Forschungsprozess.

Fazit

Die visuelle Linguistik untersucht in der Sprachwissenschaft…

die Praxis von Visualisierungen jeglicher Art (Krämer: Diagrammspiele)

als Prozess der unendlichen Semiose (Peirce)

und Teil des hermeneutischen Forschungsprozesses

und deren Implikationen auf Forschungs-
paradigmen

vor dem Hintergrund methodischer (Algorithmisierung)

und medialer Veränderungen der Daten (Digitalisierung).


www.visual-linguistics.net